Sigmund Freud und die Folgen

Sigmund Freud hat viel Neues entdeckt (das „Unbewusste“), eine Fülle neuer wichtiger Begriffe unserer Sprache hinzugefügt („Verdrängung“) und kluge Bemerkungen gemacht, die nicht selten zu Hypothesen seiner Arbeit wurden. Eine dieser Sentenzen ist mir dieser Tage wieder eingefallen, weil sie so etwas wie die „Philosophie“ dieses Blogs auf griffige Art zusammenfasst:
„Das Ich ist der Niederschlag der Objektbeziehungen.“
Eigentlich muss man das nicht „übersetzen“, weil es so klar formuliert ist – aber doch etwas sehr psychologisch-wissenschaftlich und daher für den Alltag erklärungsbedürftig. Was Freud damit meint:
Das, was wir bewusst als „Das bin ich“ erleben, ist nicht angeboren oder vom Himmel gefallen – sondern entsteht im Lauf des Lebens durch unzählige Beziehungen zu und Begegnungen mit anderen Menschen. Das fängt mit der Mutter und dem Vater und anderen Familienmitgliedern in den ersten Lebensmonaten an, wird erweitert durch die Kontakte mit Nachbarn und so fort.

Jeder dieser Menschen trägt einen mehr oder minder starken „Farbtupfer“ zum bunten Puzzle unseres Lebens bei – so wie wir selbst unzähligen Existenzen, deren Wege den unseren kreuzen, unseren ureigensten „Farbtupfer“ hinzufügen. Am intensivsten glühen die Personen nach, in die wir verliebt waren (oder gerade „verknallt“ sind). Auch kräftiger Hass, den wir gegenüber jemanden empfinden (oder den diese Person uns entgegenbringt) setzt einen – buchstäblichen – starken „Niederschlag“ im eigenen Ich.

Viele berufliche Begegnungen haben mich geprägt

Als „Beratender Psychologe“ habe ich viele intensive Begegnungen mit Klienten gehabt (vor allem während meiner Zeit als Drogenberater von 1970 bis 1976). Ab 1979 kamen dazu in mehr als tausend Schreib-Werkstätten geschätzt weit über fünftausend Seminarteilnehmer, von denen ich nicht wenige als „Stammgäste“ über Jahre hinweg begleiten durfte – und manche von ihnen über ihre Buchveröffentlichungen sogar noch intensiver.
Ich sollte noch die Freundschaften und Bekanntschaften in der Science-Fiction-Szene erwähnen (aktuell beim Stammtisch der „Phantasten“ in München) von denen einige bis auf den heutigen Tag andauern und auf vielfältige Weise sich mehr als sechs Jahrzehnte „in meinem Ich niederschlagen“ konnten – s, hierzu den vorangehenden Beitrag Begegnungen – was wäre ich ohne sie?
Schließlich sind da noch die vielen Interview-Partnerinnen und -Partner, denen ich bei meiner nebenberuflichen journalistischen Arbeit für den Bayrischen Rundfunk begegnen durfte – manchmal direkt persönlich nur für die eine Stunde der Aufzeichnung des Gesprächs im Studio – aber meistens vertieft durch Lektüre eines Buches aus ihrer Feder (was oft der aktuelle Anlass für das Interview war) – oder in wenigen Fällen ein nachwirkender Kontakt, als ich ein Dutzend dieser Interviews in dem Reader „Konzepte für die Zukunft“ zusammentrug.
Viele dieser Begegnungen werde ich im Verlauf dieses Blogs wiederbeleben – eben weil sie für mein Leben so wichtig waren und sind. Da es sich durchwegs im Personen der Zeitgeschichte handelt (etwa Vigdis Finnbogadottir, die eindrucksvolle Präsidentin von Island in den 1990er Jahren) und ein Funk-Interview eine sehr öffentliche Angelegenheit ist, begehe ich da keine Indiskretionen. Das wäre anders bei Familienmitgliedern und Freunden und Seminarteilnehmern und schon gar Klienten aus meiner Zeit als beratender Psychologe – es sei denn, sie sind einverstanden mit ihrem Vorkommen hier am Blog – aber nur nach vorheriger Absprache.
Dies gilt auch für die vielen Musiker, Schriftsteller, Maler und anderen Künstler – und für die Frauen, die meinen Weg kreuzten, mal kürzer, mal länger. Für sie alle gilt, auch im übertragenen Sinn: „Der Kavalier genießt und schweigt“. Es sei denn, die betreffende Person ist nach Rücksprache einverstanden. Doch wenn dieser Mensch nicht mehr lebt, ist Diskretion Ehrensache, jedenfalls dann, wenn es um sehr Privates geht. Wo ein großes Lob angezeigt ist – werde ich mich weniger zurückhalten.

Die Schweigepflicht gilt auch für Psychologen

Unter meinen Klienten waren einige sehr prominente Persönlichkeiten, bei denen es mich schon sehr reizt, über sie zu schreiben – nicht zuletzt, wenn meine therapeutische Hilfe in ihrem späteren Lebensweg deutlich sichtbar ist (manchmal steht so etwas in der Zeitung). Aber da halte ich mich eisern an die ärztliche Schweigepflicht (die bei Psychologen zugleich eine seelsorgerische ist).

Man kann jemandem auch „virtuell“ sehr intensiv begegnen

Nicht immer sind es echte Begegnungen mit realen Menschen, die einen nachhaltig prägen. Sigmund Freud ist für mein „Ich“ so ein „Objekt“ (wie er kühl naturwissenschaftlich andere Menschen benannte) gewesen und – wie man diesem Text entnehmen kann – er ist es noch immer. Persönlich bin ich Freud nie begegnet. Er starb im September 1939 – gerade als mein Vater in den schrecklichsten aller Kriege in Marsch gesetzt wurde und ich ein etwa vier Monate alter Embryo im Bauch meiner schwangeren Mutter war. Aber ich habe nicht nur fast alle Schriften Freuds gelesen (manche mehrmals, wie dieser Tage seinen bahnbrechenden Aufsatz „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ von 1914), sondern auch alle seine publizierten Briefe (wunderbar die Brautbriefe an seine spätere Frau Martha). Ich habe außerdem Biographien und viele biographische Aufsätze über ihn gelesen (allen voran die seines brillanten Schülers Kurt R. Eissler).
Noch intensiver wurde meine Beziehung zu Freud, als ich meine Studie über seine Kokain-Experimente schrieb und dabei entdeckte, dass sich die Auseinandersetzung mit jenen sehr problematischen Drogenerfahrungen in den Jahren 1884 bis 1886 in Paris wie ein roter Faden durch sein späteres Buch Traumdeutung zieht. (Nur nebenbei: Freud war nie kokainsüchtig, wie immer wieder mal kolportiert wird – etwa in dem Film Kein Koks für Sherlock Holmes). Man hat selten im Leben als Wissenschaftler das Glück, so etwas Neues in der Biographie eines weltberühmten Menschen zu entdecken – das alle Welt bis dahin übersehen hat. Aus dieser Studie entstand dann, quasi als Nebenprodukt, ein Reader, in dem ich Aufsätze bekannter Freud-Schüler und -Forscher zusammentrug, die sich mit Träumen von Freud befassen. Und letztlich ist auch ein zweiter Reader, Psychoanalyse (1976), ein Produkt dieser meiner imaginären Beziehung zu Sigmund Freud. Diese ist mehr und intensivere Teilnahme am Leben eines anderen Menschen, das ist intensiverer „Niederschlag“ als man selbst mit nahestehenden Menschen jemals haben wird – obwohl es doch rein „virtueller“ Kontakt (wie man heute sagen würde) mit einem Toten ist.

Persönlich kennenlernen durfte ich zwei direkte Schüler Freuds

K.R. Eissler war damals Direktor des Sigmund Freud-Archivs in New York und einer der besten Kenner des Begründers der Psychoanalyse und dieser Methode.
Heinz Kohut war Begründer einer eigenen (nicht unumstrittenen) neueren Richtung der Psychoanalyse, die sich sehr mit den positiven Aspekten des (gesunden) Narzissmus befasst und als „Selbst-Psychologie“ bezeichnet wird.
Ersterer half mir sehr bei meiner Arbeit an der Studie über Freud und das Kokain – letzterer schrieb ein sehr lobendes Geleitwort für meine Dissertation Der falsche Weg zum Selbst und war einmal bei meiner ersten Frau und mir zuhause zu Besuch, weil Elke einige seiner Bücher für den Suhrkamp-Verlag übersetzte.

Man sieht – „Begegnung mit Menschen“ kann vielerlei Gestalten annehmen. Einigen von ihnen allen werde ich nach und nach eigene „Begegnungen“ hier im Blog widmen.

Quellen
Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (1914). In: Ges. Werke Bd. X.
Scheidt: Freud und das Kokain. München 1973 (Kindler: Geist und Psyche).
ders. (Hrsg.): Psychoanalyse. Selbstdarstellung einer Wissenschaft. München 1975 (Nymphenburger).
ders. (Hrsg.): Der unbekannte Freud. München 1976 (Kindler).
ders. (Hrsg.): Konzepte für die Zukunft. Stuttgart München Landsberg Juni 1990 (Bonn aktuell).

aut #727 _ 22. Feb 2021 / 12:58

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