Mutters magische Macht und…

… die „bucklige Verwandtschaft“ auf der väterlichen Seite – das ist ein wichtiges Kapitel in meiner Lebensgeschichte. Mütter sind ohnehin dreifach wirkmächtiger als die Väter:
° Durch den Vorsprung der neun Monate Schwangerschaft, das Stillen und die Phase der frühen Kindheit, die ja, psychologisch gesehen, nur eine Fortsetzung des physischen Mutterleibs ist – Väter haben da kaum eine Chance, ihre männliche Energie und Struktur einzubringen.*
° Mütter sind auch leichter ansprechbar, weil es eine größere Vertrautheit wegen „siehe oben“ gibt. Auch wenn sie berufstätig ist: Mutter ist die Vertrauensperson. Sie muss schon eine richtige „Rabenmutter“ sein, damit dies anders wird.
° Wenn dann noch der Vater „abwesend“ ist (und andere männliche Verwandte wie Großväter, und Onkel desgleichen), wie während des Kriegs in meiner Kindheit, ist die Macht der Mutter auf wirklich magische Weise noch stärker.


* Das mag heutzutage ein wenig anders sein, weil viele Väter sich bewusst früher einbringen als in meiner Kindheit, wo es den Männern noch peinlich war, neben dem Kinderwagen herzulaufen geschweige denn ihn selbst zu schieben – gar nicht davon zu reden, das Kind im Snugly zu tragen, gleich ob vorne oder hinten (wie ich es schon – und gerne – mit meinen drei Kindern gemacht habe). Das war in den 40er, 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts undenkbar – und ist es in manchen Gegenden der Welt heute noch (ich muss diese „anderen Ländern und anderen Sitten nicht benennen – sie stehen jeden Tag in der Zeitung.)
Mein Großvater Karl Hertel lief immer in etlichen Metern Abstand hinter uns her, wenn meine Mutter mit mir (und ihm) spazieren ging – die Nähe zu „Mutter und Kind“ war etwas Unmännliches.

Mit den folgenden drei Bildern will ich veranschaulichen, was passiert, wenn nur noch Mutter und Kind beisammen sind und der „Glanz im Auge der Mutter“ (Heinz Kohut) seine volle Magie ausübt. Mein Vater bekam rechtzeitig zu meiner Geburt Heimaturlaub aus dem Krieg (wenn ich eine Tochter gewesen wäre, undenkbar). Er war einige Tage bei uns in Leipzig – und dann ging es für ihn zurück in den Krieg. Zurück blieben Mutter und Kind in „inniger Zweisamkeit“ (wie man das damals genannt hat).

Vor diesem Hintergrund ist leicht verständlich, weshalb das Wort und mehr noch (weil subtiler und undurchschaubarer) ein „abschätziger Blick“, ein Naserümpfen, eine kaum merkliche Geste Signale aussenden, die direkt ins Unbewusste des Kindes wirken. Und das wirkt auch in späteren Jahren noch kräftig nach, aber eben kaum bewusst wahrnehmbar. Nur so kann ich mir erklären, warum ich lange Zeit die Verwandtschaft meiner Mutter in Rehau als die akzeptierte und akzeptable erlebte – und die „bucklige Verwandtschaft“ (wie man das früher gelegentlich nannte) auf der anderen, der väterlichen Seite im besten Fall kritisch sah – im schlechtesten Fall sie ablehnte, und sei es nur innerlich.

Man konnte das deutlich daran ablesen, wer wozu eingeladen wurde. Hinzu kam noch, dass ein Teil dieser Verwandtschaft infolge der politischen Entwicklung nach dem Krieg in der DDR lebte, bei diesen (massiv von der westlichen Propaganda schlecht geredeten) „Kommunisten“, diesen „Rotsocken“.

Und selbst wenn sie schon lange tot waren – was waren das denn für verkrachte Existenzen: Gastwirte (selbst wenn einer davon, Großonkel Erich Naumann, als Pächter der Hauptbahnhofgaststätten in Leipzig enorm erfolgreich und angesehen und wohlhabend war) und Frühpensionäre (wie der kartenspielende Großvater Hugo in Oberstdorf und sein Schwager Albert Naumann am Simsee). Und dann diese Tagebücher, in dieser alten Schrift, von eben diesem Gastwirt auf dem Inselberg!
Wenn mein Vater im Kreis der versammelten Familie daraus vorlesen wollte, stellten sich mir schon vorher ablehnend die Nackenhaare auf.
Das alles hatte nichts mit der Beziehung meiner Eltern zu tun, die eigentlich sehr liebevoll einander zugetan waren. Es gab da zwar gelegentlich heftigen Streitereien, die wir Kinder nicht recht verstanden – weil die vielleicht, wie mir heute bewusst wird, mit dieser „anderen Verwandtschaft zu tun hatten?

Ich war schon an die 70 Jahre alt, als ich allmählich den Reichtum und die Kostbarkeit dieser Tagebücher entdeckte und die „bucklige Verwandtschaft“ besser kennenlernte – und die Fehler und „schmutzigen Flecken“ auf den ach so weißen Westen der so hochgelobten und respektablen Rehauer Seite.

Mehr darüber (vor allem über den besagten tagebuchschreibenden Gastwirt) in dem Beitrag → Begegnung mit Urgroßvater Ferdinand Naumann.

Die „bucklige“ Verwandtschaft

Was meine Mutter sonst noch von der väterlichen Linie hielt, weiß ich nicht. Das wurde nie deutlich ausgesprochen – aber dennoch unmissverständlich kommuniziert, wenn auch auf sehr subtile Weise. Aus gutbürgerlicher Sicht wäre da zu Kritisierendes jedenfalls genügend vorhanden gewesen, denn da waren:
° Großvater Hugo, der mit seiner Sägenklitsche Pleite gemacht hatte und ab da von der „Stütze“ lebte.
° Der unglückselige Reinhold Naumann, der sich wegen seiner Geldnöte aus Verzweiflung erhängte, weil sein sehr wohlhabender Bruder Erich ihm weitere Unterstützung verweigerte.
° Leo Spelzberg, der Hitler ein Horoskop stellte, in dem er ihn vor zukünftigen Entwicklungen warnen wollte (das war 1924 nicht absehbar) – und den die Gestapo deshalb ermordete.
° Der andere Großonkel Albert (Sohn von Ferdinand Naumann), der mit 48 so todkrank wurde, dass die Post ihn in Frührente schickte – die er putzmunter bis ins 96. Lebensjahr genoss.
° Großonkel Julius vom Scheidt, den die Familie aufs Schiff nach Amerika setzte – weil er irgend etwas verbrochen hatte, über das man nie Genaueres erfuhr.
° Mein Patenonkel Achim Naumann (Cousin meines Vaters), der ein deutschlandbekannter Zocker war und Spielbankverbot hatte – und der im Dritten Reich deshalb in die SS eintrat, um doch noch nach dem Tod seines Vater Erich Naumann den Leipziger Hauptbahnhof übernehmen zu können, den ihm die Reichsbahn wegen seiner Spielsucht nicht geben wollte. (Er hat die Pacht bekommen.)
° Mein anderer Patenonkel Julius, der Marketingchef von „Pott Rum“ in Flensburg war und in den 50er Jahren den damals ersten und sehr bekannten Fernsehkoch Clemens Wilmenrod mit 500 DM bestach, damit der die „Feuerzange mit Pott Rum“ im TV zelebrierte, was den Umsatz an Pott Rum deutlich in die Höhe trieb.
° Oder mein eigener Vater, der stolz darauf war, 1936 in New York vor dem deutschen Konsulat die Hakenkreuzfahne aufgezogen zu haben, wogegen der Konsul sich geweigert hatte.

Dabei hätte es auf der eigenen (väterlichen) Seitze auch eingies zu kritisieren gegeben: Zum Beispiel bei ihrem Vater (meinem Großvater Karl Hertel), der in der Ukraine Kommandeur im Majorsrang eines Regiments war und dessen bester Freund Hans Modschiedler* in ähnlicher Funktion in Polen tätig war – von beiden möchte ich nicht wissen, was die damals dort gemacht haben –
doch, ich würde das gerne wissen – aber man wird es wohl nie erfahren. Krieg ist Krieg – und wo gehobelt wird, da fallen Späne. So hat man das nach dem Krieg weggewischt.

* Modschiedler war in Polen so erfolgreich, dass man ihn zum Oberstleutnant beförderte. Er muss aktiv an der Judenvernichtung beteiligt gewesen sein. Aber in der Quelle, wo ich das zufällig entdeckte, geht man darüber hinweg und notiert nur „1953 ist es ihm vergönnt, mit seiner Gattin die Goldene Hochzeit zu feiern“. (Münzer-Glas 2002).

Quelle
Kohut, Heinz – zit.n. vom Scheidt 1981.
Scheidt, Jürgen vom: „Der Glanz im Auge der Mutter“. (Zum Tod von Heinz Kohut) In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Okt 1981

aut #810 _ 2021-03-14/19:09

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