Darf van Gogh eine Sonnenblume malen…

… wenn er selbst keine ist? Ich will hier näher ausführen, was ich nur angetippt habe in meiner Kolumne Dummes Gerede von klugen Leuten.
Entsetzlich viel „dummes Zeug“ wird in der aktuellen „Identitäts-Debatte“ in die Welt posaunt. Dem will ich hier näherkommen.
Darf zum Beispiel eine Weiße das Gedicht einer Schwarzamerikanerin übersetzen? Offenbar nicht – weil die doch als Weiße keine Ahnung haben kann, wie das ist „eine Schwarze“ zu sein. Das kuriose Mediengemetzel um die (weiße!) Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld der Gedichte von der (schwarzen!) Amanda Gorman hat Gräben aufgerissen, die mich fatal erinnern an das sinnlose Geschrei an der Alice von Salomon-Akademie in Berlin um Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“*

*Weil das angeblich Frauen entwertete, forderten Student*innen der Akademie die Entfernung dieses kleinen Poems von ihren Heiligen Hallen – diesen „Sturm im Wasserglas“ kann man im Internet mit „ungefähr 7.450 Ergebnissen“ finden, wenn man googelt: „eugen gomringers gedicht avenidas.“
Mich freut das alles besonders, weil der Stadtrat meiner früheren Heimatstadt Rehau das Gedicht inzwischen riesengroß gleich neben dem alten Rathaus an einer freien Hauswand anbringen ließ, – in Rehau gibt es nämlich in meiner alten Volkschule schon lange ein Gomringer-Museum.

Kann ich mich als Nicht-Mutant in einen Mutanten hineinfühlen und ihn adäquat proträtieren? Ich hab´s 1959 einfach versucht (Archiv JvS)

Können Weiße Jazz spielen?

Dürfen Weiße das überhaupt – diese „schwarze Musik“ spielen? Oder darf ein Europäer indische Ragas interpretieren? (Meine Antwort: Warum nicht – wenn er nicht nur nachäfft – sondern die Raga gut mit eigenem Geist und Können erfüllt?)

Miles Davis gab die Antwort, als er mit Bill Evans als weißen Pianisten in seine Band holte. Die Kommentare mancher schwarzer Zuhörer: „Was will der denn hier?“ hat Davis geflissentlich ignoriert – die Großartigkeit der weltberühmten Session Kind of Blue gibt ihm Recht.

Treiben wir das ein wenig auf die Spitze

° Muss man Jude (oder Jüdin) sein, um ein „Jüdisches Museum“ zu managen?

° Muss ich eine Frau sein, um über meine Urgroßmutter Anna schreiben „zu dürfen“?

° Kann ein (männlicher) Autor überhaupt in seinen Romanen über Frauen schreiben? Darf er das? Oder Frauen – über Männer?

° Muss ich ein dreizehnjähriger Junge sein – um über mich als Dreizehnjährigen zu schreiben?

° Hätte ich als 19jähriger in meinem zweiten Roman Sternvogel über einen 35jährigen Protagonisten schreiben können – noch dazu über einen Großunternehmer und dessen Suizid? (Ich denke, ich hab das ganz gut hingekriegt – mit meinen damaligen Fähigkeiten.)

° Muss ich ein Neugeborenes sein – um über die Geburt meiner Kinder berichten zu dürfen – oder gar über meine eigene Geburt?

° Darf ich al Nicht-Inder Yoga machen? Darf ich über Yoga schreiben? Darf ich Yoga unterrichten?

° Muss Vincent van Gogh eine Sonnenblume sein – um eine solche malen zu dürfen?

° Muss ein Astronom eine „Sonne“ sein – um über Sterne forschen zu können? Mussten Roger Penrose, Reinhard Genzel und Andrea Ghez erst selbst zum „Schwarzen Loch“ werden – um zu Recht 2020 mit der Nobelpreis für Physik ausgezeichnet zu werden?

° Darf Brad Pitt den Tod in Rendezvous mit Joe Black erst dann spielen – wenn er tot ist? (tot gewesen ist?) Ich denke, er hat das schauspielerisch ganz gut hingekriegt – diese total distanzierte, entschleunigte – und doch emotional teilnehmende Position.

Wahrscheinlich schadet es nichts, wann man die jeweilige Position authentisch (das große Wort: Authentizität“) beschreiben oder erforschen möchte – aber ist es unbedingt notwendig ,sich 100proznetig zu identifizieren? Ist nicht gerade der höchst kreative Prozess der Annäherung an etwas ganz anderes viel wichtiger – weil nur so Grenzen zwischen Menschen nicht immer fester zementiert werden (weil ich sonst für immer in meiner eigenen vertrauten Blase verharre)?

Annäherung durch Identifizierung

Können wir uns „Fremdem“ anders annähern – als durch Identifizierung? Das ist doch eines der Grundgesetzte der Psychologie: „Wenn du die Welt verstehen willst – versetze ich in ihre anderen Bewohner.“

Natürlich muss ich mich irgendwann hinterfragen: Verstehe ich den / die anderen richtig? Oder projiziere ich nicht nur eigenes Denken und Vermuten auf sie? Das ist eine der ersten und wichtigsten Lektionen, die Übersetzer*innen lernen: Genau hinschauen, was der /die andere meint mit dem, was da geschrieben wird.

Oder wie ein alter Indianer-Spruch sagt: „Verurteile niemanden, bevor du nicht tausend Schritte in seinen Mokassins gelaufen bist.“ (oder so ähnlich).


Quellen
Brest, Martin (Regie) und Goldman, Bo et al (Drehbuch): Rendezvous mit Joe Black. USA 1998

149 _ aut #820 _ 2021-03-30 / 21:57

2 Kommentare zu „Darf van Gogh eine Sonnenblume malen…

  1. Es geht in der Kunst ja nicht um Objektivität. Es geht um die Sichtweise. Würden wir das ablehnen, kämen wir schnell an den Punkt, wo es dem Selbst nur noch gestattet ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

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  2. köstlich amüsant, die Frage, ob von Gogh eine Sonnenblume malen darf, wenn er selbst keine ist – die Antwort müsste eindeutig: NEIN sein – zum Glück malte er sie ja in seinem eigenen Stil und dann ist es doch wieder gestattet, gell?

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