Zum Geleit: Abschied von Utopia

Die hier angekündigte Kurzgeschichte (s. nächster Beitrag Abschied von Utopia) ist  am 20. Mai 1986 recht flott in einem Rutsch entstanden. Die Idee irrlichterte plötzlich durch meinen Kopf und wollte geschrieben werden. Der Hintergrund war, dass ich 1986 wieder einmal große Zweifel an meiner Begeisterung für Science-Fiction hatte. Die kam und ging ja in Wellen. Zweimal habe ich fast meine gesamte SF-Bibliothek verkauft (beide Male an Wolfgang Jeschke).

Schon in meinem (vierten) Roman Rückkehr zur Erde (1978) hatte ich mit dem Titel andeuten wollen, dass es nun an der Zeit sei, sich von SF zu verabschieden, von dieser Lieblingslektüre meiner Kindheit und Jugend, und „erwachsen“ zu werden. Doch dann erwachte mein Interesse wieder, ich schrieb erneut SF-Geschichten (was denn sonst?) –

Dann wieder: Zweifel. Und so wurde – im Titel zumindest – im Mai 1986 wieder einmal eben mein „Abschied von Utopia“ eingeläutete.

Wenn man die Geschichte gelesen hat, versteht mein meine Motive hoffentlich ein wenig besser. Aber Sie werden es in diesem Blog ja immer wieder feststellen: Los geworden bin ich mein Interesse an der SF nie ganz. Zur Zeit ist es sogar wieder recht intensiv, nicht nur durch die Arbeit an meinem glü-Roman. Dass wir durch die Corona-Pandemie gerade allesamt mitten in einem apokalyptischen Science-Fiction-Abenteuer drinstecken – geschenkt. Welcher Prophet möchte nicht auch mal Recht behalten mit seinen Warnungen. Dass immer häufiger die Partei der Grünen gewählt wird und nun die junge Generation sich in Fridays for Future engagiert , sagt ja etwas – nämlich dass auch andere Menschen unruhig werden angesichts der auf uns zurasenden Klimaerwärmung und anderer Themen, welche die SF schon vor Jahrzehnten auf einem silbernen Tablett präsentiert hat: KI. Digitalisierung, Globalisierung…
Sogar das Internet hat jemand vorausgesehen: John Brunner in seinem Roman Der Schockwellenreiter. Nicht dass so etwas wie eine Pandemie mich jemals als Zukunftsthema interessiert hätte (diese Romane und Drehbücher haben andere geschrieben) – aber dass die Zukunft gewaltige Überraschungen dieser Art für uns bereit hält – das habe ich immer gedacht.

Ich möchte mich allerdings mit meinem glü-Roman schon in einem gewissen Sinn von der SF verabschieden, und zwar von einer bestimmten Art, die mit gewaltigen Raumschiffen und grauslichen Aliens herumpowert  – denn die realen Aliens sind ganz anderer Art: Fremde Migranten auf der Flucht vor Kriegsgräueln sehr irdischer Natur, die über unsere Grenzen kommen; nanowinzige Virus-Mutanten, die angeblich allesamt in eine Cola-Dose passen würden, wenn es gelänge, sie einzufangen wie den „Geist aus der Flasche“ im Märchen.

Mir schwebt eine Utopie vor, die ganz real im Hier-und-jetzt von München angesiedelt ist – aber vor der Folie einer fernen galaktischen Zivilisation, die der unseren um etwas drei Jahrhunderte in ihrer Entwicklung voraus ist. Man gehe nur in Gedanken mal dreihundert Jahre zurück und betrachte, wie die Welt damals aussah – keine Welt und keine Zeit, in der ich leben möchte. Man denke nur einmal an Zahnschmerzen und wie man die vor 300 Jahren behandelt hat, als es noch keinen Turbinenbohrer und keine Schmerzmittel gab.

(Die MultiChronie lehrt uns, dass auch heute noch viele Menschen, ja ganze Länder „dreihundert Jahr in der Vergangenheit leben – etwa wie die Frauen behandelt werden – aber das ist ein anderes Thema.)

Und nun lade ich sie ein zu meiner Kurzgeschichte Abschied von Utopia

MultiChronalia
1986 entstand diese Kurzgeschichte. Aber ihre Vor-Geschichte reicht bis ins Jahr 1948 zurück, als ich meine erste SF-Erzählung las und gewissermaßen für Zukunftsromane angefixt wurde: Auf unbekanntem Stern von Anton M. Kolnberger. Schwere Kost für einen Achtjährigen? Vielleicht – aus der Sicht von Erwachsenen jener Nachkriegstage. Aber ich vertiefte mich gerne in diese fremde Welt – und war ich nicht schon durch die Märchen von Tausend und einer Nacht und durch Peterchens Mondfahrt darauf vorbereitet? Sie waren bereits so etwas wie Modelle für das, was ich in Abschied von Utopia in völlig anderer Form paraphrasiert habe: Da gelingt jemandem der Übergang in eine völlig andere Welt – auch ein „unbekannter Stern“ (Kolnberger kannte offenbar nicht den Unterschied zwischen Stern = Zentralgestirn wie unser Sonne – und Planet, auf dem man leben kann).
Die Meta-Ebene dieser meiner Geschichte war tiefenpsychologischer Natur: Ich wollte mich lösen von diesen doch etwas weltfremden und verrückten Phantasien, die einem gestandenen Mann (immerhin 46 Jahre alt) mit Familie und anspruchsvollem Beruf doch nicht mehr so recht anstanden und eher etwas für pubertierende Jugendliche auf der Weltflucht waren.
Angekündigt hatte ich meinen Rückzug aus der SF schon 1978, also zehn Jahre zuvor, mit dem Romantitel Rückkehr zur Erde – also weg von „fernen Welten“. Bodenständig werden, drei Kinder großziehen, Rente ansparen…
Und nun grabe ich im Jahr 2021 diese alte, nie veröffentlichte Geschichte aus und denke: Zeit, sie in meinem Blog zu veröffentlichen. Auch ein wenig als Vorbereitung für einen neuen Roman – der wieder SF sein wird (wie seine vier Vorgänger) – aber nicht so weltflüchtig, sondern bodenständiger – wie es Abschied von Utopia hoffentlich auch für andere Leser ist.
Mein neuer glü-Roman weist in meine ganz persönliche, aber sehr nahe Zukunft. In dieser Gegenwart von 2021 soll er endlich fertig werden (begonnen: 2012 – aber mit Vorläufern ab 1982). Es wäre toll, wenn er 2022 dann tatsächlich erscheint. Ich werde es in diesem Blog vermerken. –
Noch ein multichronaler Blick auf die aktuelle Weltlage: Da ist viel Mittelalter unterwegs (Händeabhacken in Saudi-Arabien als Strafe für Diebe, Steinigung angeblich untreuer Frauen im Iran, ungleiche Bezahlung für Frauen bei uns in Deutschland).
Vor dreihundert Jahren, also 1721 – da sah es richtig finster aus: Kein elektrisches Licht, keine Zentralheizung in der Wohnung, kein fließendes Wasser. Toiletten? Buchstäblich „Scheiße“ – auf die Straßen, wie heute noch in Indien mancherorts (hab ich jedenfalls 1975/76 noch gesehen, und nicht nur in den Slums). Keine Computer, keine KI, keine Laptops in den Schulen – dafür gar keine Schulen. Dafür ganze Landstriche durchrast von mordenden Pandemien, Pest genannt (oder Cholera, oder wie sie alle hießen) – und kein Impfstoff nirgends. Und keine städtische Kanalisation (hat Pettenkofer erst um 1880 in München eingeführt). Gut, keine die Luft verpestenden Autos – aber der Gestank des Pferdemists und der Menschen glich das locker aus. Öffentliche Hinrichtungen und Folter (hat die CIA dann wieder ab 2003 im Zweiten Irakkrieg eingeführt – für „Terroristen) und Hexenverbrennungen jederzeit und überall – und jede Menge Kriege.
Wenn Ihnen jetzt der Kopf schwirrt von diesen Jahreszahlen, ein beruhigender Blick nach vorne:
In meinem München der nahen Zukunft von 2026 geht es menschenfreundlicher zu. Bill Gates lässt keinen Kindern mehr in Kellern von Pizzerias das Blut abzapfen. Aluhüte sind nicht mehr so gefragt. Die Corona-Pandemie ist durch Impfungen nicht gerade ausgerottet, aber unter Kontrolle – außer bei den Impfgegnern. Eine (ungeplante) Verschwörung von Hochbegabten wird sichtbar, die den Homo futurus vorbereitet. Und im Hintergrund ist eine galaktische Zivilisation zu ahnen, in der um das Jahr 2300
– aber lesen Sie das am besten nächstes Jahr in meinem glü-Roman nach.

Quelle
Brunner, John The Shockwave Rider. London 1975). Deutsch: Der Schockwellenreiter. Deutsche Ausgabe: Übersetzt von Horst Pukallus. Heyne SF&F #3667, 1979.

095 _ aut #726 _ 2021-02-21 / 19:35

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