Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen – redivivus 2003

(Was ich im vorangehenden Beitrag → Kriegerlebnisse eines Fünfjährigen 1 notiert habe – das ist für mich das, was man als „Krieg“ bezeichnet. Diesen Text hatte ich 1974 geschrieben. Ich erinnerte mich wieder an ihn, als ich 2003 während der Arbeit an meinem Buch Das Drama der Hochbegabten eine massive Schreibblockade hatte. Dabei entstand der folgende ergänzende Text.)

Wenn heute am 17. März 2003 (da ich diese Zeilen wieder lese und mich entschließe, sie vielleicht in mein Buch über die Hochbegabten aufzunehmen) für den amerikanischen Präsidenten George W. Bush die „Stunde der Wahrheit“ gekommen ist, weil er den Krieg gegen den Irak verkündet – dann weiß ich, was er damit anrichten wird. Ob er selbst es hingegen weiß, wage ich zu bezweifeln. In mir steigt jedenfalls ein ungeheurer Zorn auf gegen diese „Stunde der Wahrheit“, die auf nichts als Lügen gebaut ist. Und der Zorn ist um ein Vielfaches größer, weil er durch die unzähligen guten Erfahrungen konterkariert wird, die der Einmarsch der Amerikaner im Mai 1945 für mich brachte.

Im Krieg kulminieren die Aggression und ihre (Spät-)Folgen (Archiv JvS)

Ich will diese Erinnerungen in das Buch aufnehmen, weil sie für mich vieles deutlich machen, was mit Hochbegabung zusammenhängt.

(Ergänzung 08. April 2021: Ich habe diesen Text dann doch nicht ins Buch aufgenommen – ich wusste einfach nicht, wo das passen könnte. Aber er half, die Schreibblockade zu lösen.)

Mir erklären diese Erinnerungen ein gutes Stück die Blockade (besser: Bremse) welche ich monatelang erlebte, als ich am Buch arbeitete. Da saß in der Tiefe etwas, das von den Kriegsvorbereitungen draußen genährt und geschürt wurde und mich (mein Inneres Kind) ungeheuer beschäftigte und ängstigte: Jetzt geht das wieder los, war die Botschaft, die verdaut werden wollte. Und ich kann wieder nichts dagegen tun!

Von Nicht-Psychologen wird das Konzept des Inneren Kindes manchmal belächelt. Aber für mich ist es eine Realität: Das Kind, das ich damals war, lebt noch immer in mir – genau wie der 13-jährige Jugendliche, der einen schlimmen Unfall hatte, und viele andere Gestalten, die ich einmal gewesen bin und die auch unendlich viel Gutes und Schönes erlebt haben – aber eben auch das – was so schrecklich war.

Das Unbewusste kennt keinen Zeitbegriff, hat Sigmund Freud einmal hellsichtig festgestellt. Es bedarf nur eines starken Eindrucks von außen (das Bush´sche Säbelgerassel) – und schon lebt das Geschöpf wieder auf, das ich damals war.

Diese übergroße Erinnerungsfähigkeit und Sensibiltät ist in anderen Fällen ein Segen – ohne sie könnte ich weder als Psychologe mich entsprechend in andere Menschen einfühlen noch als Schriftsteller mich erinnern und Erlebtes wiederbeleben und gestalten. Aber sie ist auch ein Fluch, wenn man einen Ablieferungstermin für ein Buch-Manuskript hat – und der kreative Motor ins stottern kommt, weil 50 Prozent oder mehr seiner Antriebskraft anderweitig beschäftigt sind: nämlich die schrecklichen Erinnerungen „an damals“ drunten zu halten.

Erst als ich meinem Inneren Kind, dem Fünfjährigen des Kriegsjahres 1945 (das eigentlich für die ganze Zeit meines Lebensanfangs steht, mit Nazi-Diktatur, Krieg und Nachkriegswirren), hoch und heilig versprach, ich würde seinen ungeheuren Zorn und seine abgrundlose Trauer und seine schrecklichen Ängste mit in das Buch aufnehmen – da ließ es mich in Ruhe weiterarbeiten.

Ich glaube nicht, dass nur (hochbegabte) Psychologen und Schriftsteller von solchen Erinnerungen gepeinigt und blockiert werden, sondern dass es Millionen Menschen so geht, die diese Zeit selbst erlebt und – meistens unbewusst und unverarbeitet – an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben*.

* Die Frau meines früheren Schuhmachers fällt mir ein, der einmal im Gespräch die Bemerkung herausrutschte, sie wache jede Nacht schreiend auf, weil sie im Krieg verschüttet worden war. Sie wurde erst nach einigen Tagen ausgegraben, weil ein General in der Nachbarschaft darauf bestand, dass weiter gegraben wurde. Ihr schreiendes Aufwachen erlitt sie noch ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende!

Hochbegabung bringt erhöhte Sensibilität und Erinnerungskraft und Vorstellungsvermögen mit sich, und man muss schon verdammt gestört und emotional abgebrüht sein, wenn man all das dann noch „drunten“ halten kann im Orkus des Vergessens.

Ich kann es nicht.

Es ist meinem Inneren Kind wichtig, dass diese Botschaft weitergegeben wird, dass sie nicht untergeht im triumphierenden Kriegsgeschrei der Sieger. Das ist das einzige, was ich tun kann gegen diesen Wahnsinn.

Diese Botschaft ist aber zugleich die Warnung vor einer bestimmten Gruppe Hochbegabter, welche als Regierende und ihnen zuarbeitende Experten leicht der Arroganz und Hybris verfallen und Taten (und Untaten) anordnen, für die sie selbst kaum geradestehen müssen – aber unzählige Normalbegabte auf beiden Seiten der Kriegsfront: Kanonenfutter und Kollateralschäden

Die Arroganz der Mächtigen

Es will mir nicht in den Sinn, was da passiert dass:
° eine angeblich so vorbildliche Demokratie wie die USA ihre Machtelite so schlecht kontrolliert,
° so tapfere Menschen, als welche die Amerikaner sich gerne geben, eine solche Höllenangst vor einem irakischen Diktator haben und jahrelang in Panik geraten wegen der Terroranschläge vom 11. September (deren Opferzahl im anschließenden Rachefeldzug gegen Osama bin Laden bei der afghanischen Zivilbevölkerung weit übertroffen wurde);
° so tüchtige Geschäftsleute sich die Wirtschaft von einer Clique fundamentalistischer Christen so nachhaltig ruinieren lassen,
° so viele intelligente Menschen sich so von einem profilneurotischen Präsidenten** manipulieren lassen, dem jeder Psychologe aus tausend Kilometern Entfernung ansieht, dass er nur seinem Vater beweisen will, dass er der größere Kriegsherr ist,
° und dass seine eigene Partei ihn überhaupt als Präsidenschaftskandidaten aufgestellt hat, obwohl er sein Alkoholproblem nicht mit einer ordentlichen Psychotherapie in den Griff bekam (oder meinetwegen auch mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker), sondern durch ein Erweckungserlebnis (das offensichtlich einen manichäischen Fanatiker produziert hat und gerade nicht einen besseren Christen).

Ob George W. Bush ein Hochbegabter ist, lässt sich schlecht aus der Ferne diagnostizieren. Er muss ja bestimmte Qualitäten haben, die für Hochbegabte kennzeichnend sind (insbesondere die Vernetzung von Menschen) – sonst wäre er nicht in dieses höchste Amt gelangt, das er auf der Erde derzeit gibt. Weder hätte man ihn gewählt – noch hätte er diesen Job angestrebt. Es wird sich zeigen, ob er auch lernfähig genug ist, die Ungebildetheit und die anti-intellektuelle Attitüde, mit der er gerne seinen schlichteren Wählern gegenüber kokettiert, irgendwann auszugleichen – und sei es durch bessere Berater.

So viel Hoffnung (und Größenwahn) möchte ich mir schon gestatten.

** Da hatten wir allerdings noch nicht einen gewissen (gewissenlosen) Donald Trump erlebt!

Katharsis durch Aufschreiben

Wie gesagt – das ist eigentlich Schnee von gestern. Wer weiß heute noch, wer George W. Bush war, der US-Präsident von Barack Obama und Donald dem Unaussprechlichen und jetzt endlich Joe Biden. Aber für mich ist es, vor allem in Zusammenhang mit dem vorangehenden Text Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen , der mich weit zurück in meine Kindheit.

Es ist ja wohl kein Zufall, dass meine ersten beiden Kurzgeschichten, die ich geschrieben und veröffentlicht habe, mit Krieg zu tun haben. Eine finden Sie hier im Blog in voller Länge: Nur ein kleiner Fehler. Da vernichten Aliens eine ganze Menschheit auf einem fremden Planeten (die grausame Pointe wird hier nicht verraten). In der anderen Story (vielleicht auch demnächst hier in diesem Theater) wird ein ganzes Universum durch eine neue Waffe vernichtet: —„Eine unter vielen“.

Auch in meinem ersten Roman, 1957 geschrieben, kommt ein gewaltiger Krieg vor. Dabei wird nicht nur Atlantis zerstört – sondern auch ein ganzer Mond. Das ist eine der schrecklichen Erkenntnisse, welche die Männer gegen Raum und Zeit machen. Und in meinem dritten Roman, Der geworfene Stein, herrscht ebenfalls zeitweilig Krieg. (Der Titel deutet es ja bereits an).
Kriegsfilme haben für mich eine wichtige Bedeutung – man nennt das in der Psychologie (und in der Theaterwissenschaft, überhaupt in der Dramaturgie): Katharsis.

Warum wohl?

Quellen
Scheidt, Jürgen vom: Männer gegen Raum und Zeit. Leihbuchausgabe). Wuppertal-Barmen 1958 (Wieba).
ders.: Der geworfene Stein. Percha bei München 1975 (R.S. Schulz).
ders.: Das Drama der Hochbegabten. München 2004 (Kösel).

162 _ aut #836 _ 2021-0-08 / 18:43

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