Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen

(Dieser Text trug in der Anthologie, wo er ursprünglich veröffentlicht wurde, den Titel: „Kriegserinnerungen eines Fünfjährigen“. Erst später wurde mir klar, dass ein Fünfjähriger noch keine „Kriegserinnerungen“ haben kann und passte den Titel an.
Bewusst nicht angepasst habe ich die Rechtschreibung dieses Textes aus dem Jahr 1974 – es ist ein Zeitdokument.)

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, war ich fünf Jahre und drei Monate alt. Lange waren diese ersten Lebensjahre zwischen Februar 1940 und Mai 1945 irgendwo in den Speichern meines Gedächtnisses begraben, bis mich im November 1974 ein Traum daran erinnerte.

Dieser Traum löste in mir die Frage aus: Wie habe ich eigentlich den Krieg erlebt.

Einziges Foto als Fünfjähriger: 1945 im großen Garten in Rehau – warum schau ich da so bekümmert? (Archiv JvS)

Im Februar 1940 kam ich in Leipzig zur Welt. Mein Vater, der damals als Soldat irgendwo in Holland an der Front war, erhielt ein paar Tage Heimaturlaub und durfte seinen Erstgeborenen sehen. Davon habe ich keine bewussten Erinnerungen, genauso wenig, wie ich mich an Vaters Heimaturlaub 1942 in Rehau und 1943 auf dem Jägerhof bei Jena erinnere. Von dieser ersten Begegnung existiert jedoch ein Foto, auf dem ich mich offenbar sehr freue, dass er bei mir ist. Dies wurde gewissermaßen zu einer künstlichen Foto-Erinnerung.

1942: Heimaturlaub vom Krieg: Vater Helmut vom Scheidt (35) mit Sohn Jürgen (02) (Archiv JvS)

Seltsamerweise erinnere ich mich aus dem Jahr 1943 noch sehr präzise an eine österliche Fahrt mit einer Pferdekutsche mit dem Großvater Hugo (dem Vater meines Vaters), der auf diesem Gutshof Verwalter war. Auch an Spiele mit einer großen Eisenbahn, auf deren Lokomotive man richtig sitzen konnte, erinnere ich mich und an eine weiße Porzellanhenne, in deren ausgepolstertem Bauch die Frühstückseier warmgehalten wurden – beides Erlebnisse aus der selben Zeit auf diesem Gutshof. Und ich erinnere mich an die Elke Fuchs, Nachbarskind in Leipzig.

Kutschfahrt Ostern 1943 zwischen Jena und Jägerhof mit (v. links) Großvater Hugo vom Scheidt, JvS 03 und Mutter Marie vom Scheidt (Archiv JvS)

Meine Mutter verließ Leipzig wegen der Bombengefahr Ende wohl schon 1941 und zog mit mir nach Rehau zu ihrer Familie. Sie fuhr in diesen Jahren immer wieder mal nach Leipzig zurück, wo die Wohnung gemietet blieb – in der Hoffnung, dass wir sie nach Kriegsende wieder beziehen könnten. Dieses Wegfahren der Mutter hat in mir sehr schmerzliche Erinnerungen hinterlassen – und sehr schöne. Schmerzlich war der Abschied auf dem Bahnhof: sie davonfahren zu sehen. Schön waren jene zwei, drei Fahrten, bei denen sie mich mitnahm und ich dann auf dem kleinen Klapptisch neben dem Fenster sitzen und aus dem dahinrasenden Zug schauen durfte. Manche Träume, in denen ich von Zügen bedroht werden oder aber in Zügen sehr interessante, aufregende Dinge erlebe, sind wohl (auch) wieder wachwerdende Erinnerungen an jene „Leipzig-Fahrten“ der Mutter, alleine oder mit ihr.

Es gibt da ein Ereignis, das mit Fliegeralarm, fallenden Bomben, geängstigten Menschen, Luftschutzkelleratmosphäre zu tun hat, denn immer wieder träume ich Szenen, in denen ich ganz klein bin und mich erschreckt verkrieche. Mir ist dabei nie etwas passiert – aber irgendetwas hat sich in die Seele des Zwei-, Dreijährigen eingeprägt und bestimmte Ängste hinterlassen, die ein übergroßes Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe der Mutter auslösten.

Im Herbst 1943 fuhr meine Mutter mit mir nach Oberstdorf, damit ich im gesunden Bergklima meinen Keuchhusten auskurieren konnte. Wir machten dabei Station in München bei einer Tante. In deren Haus hatte eine Brandbombe eingeschlagen und den Dachstuhl aufgerissen. Es hat mich sehr beeindruckt, dass man durch die Öffnung des schwarzgebrannten Dachbodens den Sternenhimmel sehen konnte. Dauernd wollte ich „Sternele sehen“.

Der dritte vorne von links: Mein Großvater Major Karl Hertel – deutlich der Chef – vermutlich 1941 in der Ukraine. (Archiv JvS)

Eines Tages, irgendwann 1944 (?) kam der Großvater (Vater meiner Mutter) von der Ostfront zurück. Er brachte mir die schwierigen Wörter „Dnjepr“ und „Dnjepropetrowsk“ bei und den Namen der Stadt „Konstantinopel“. An das mühsame Lernen dieser beiden russischen Namen erinnere ich mich noch genau. Damals wußte ich nicht, daß sie mit dem Krieg zu tun hatten. Das wichtigste war, daß mit Opa endlich ein Mann ins Haus kam, in dem sonst nur Frauen lebten; die Oma (Mutter meiner Mutter), meine Mutter, meine Tante Lis, die Haushaltshilfe Else, eine angeheiratete Tante mit einer Tochter. Ich wurde wohl sehr verwöhnt. Trotzdem brachte der eher strenge Einfluß des Großvaters in diesen Frauenhaushalt ein wohltuendes männliches Element.

In jenem schlimmen Winter 1943/44 (oder war es 1945?), als selbst im damals noch ländlichen Rehau das Essen knapp wurde, erfüllte mir meine Mutter meinen größten Wunsch: Schweinebraten mit Klößen. Später erzählte sie mir, wie schwierig es war, den Braten zu beschaffen; sie musste fünf Kilometer zu Fuß durch tiefen Schnee und Eiseskälte zu einem Bauernhof in Kühschwitz stapfen (und wieder zurück), musste lange die Bäuerin anbetteln, bis sie endlich das begehrte Stück Fleisch im Tausch gegen Geschirr, Stoff oder Ähnliches einhandelte. Ich erinnere mich allerdings nur daran, dass der Geburtstagsbraten köstlich schmeckte.

Im Sommer 1944 bekam es meine Mutter mit der Angst zu tun. Das Ende des Krieges war absehbar, aber niemand wusste, ob nicht auch das abgelegene, strategisch unbedeutende Rehau beschossen oder gar bombardiert werden könnte. Deshalb zog sie mit meiner Tante, meiner Schwester und mir in eine kleine Hütte in einem Wiesengrund zwischen großen Wäldern außerhalb der Ortschaft. Wir pflückten Kresse in den Wassergräben nebenan, tollten auf Wiesen herum …

… bis jener feindliche Tiefflieger aufkreuzte, als wir gerade am Waldrand spazieren gingen. Meine Mutter rief „hinlegen“, es gab einen Höllenlärm, als die Maschine ganz niedrig über uns dahinraste …

In den folgenden Nächten kamen immer mehr kriegsmüde, flüchtende Landser an der Hütte vorbei, warfen ihre Waffen weg und stießen Flüche aus, wenn sie sich von uns ertappt glaubten. Es war nicht abzusehen, ob nicht demnächst mal einer darunter sein könnte, der zwei Frauen und zwei Kindern gegenüber weniger friedfertig sein würde, ja dass irgendwann auch der Feind selbst, Russen (von denen schreckliche Dinge gemunkelt wurden) oder Amerikaner, aufkreuzen könnten. So verließen wir dieses sommerliche Paradies wieder und kehrten ins nahe Rehau zurück.

Die Lage wurde immer ernster. Schließlich sollte (im April 1945?) sogar die Brücke über den Höllbach, die wenige Meter neben unserem Haus floss, gesprengt werden. Die SS befahl allen Leuten aus der näheren Umgebung, die Luftschutzkeller aufzusuchen und Stöpsel in die Ohren zu stecken. Zum Glück kam es nicht dazu. Gesprengt wurde statt dessen die Eisenbahnbrücke bei Eulenhammer außerhalb der eigentlichen Ortschaft; die Detonation hörten wir freilich deutlich, und damit rückte der Krieg mit seiner Zerstörung auch ganz nahe zu uns.

Am eindrücklichsten stellten sich für mich die Schrecken des Krieges in folgenden Ereignissen dar:

Eines Nachmittags tauchte ein desertierender Soldat bei uns in der Küche auf. Mein Tante hatte ihn wohl mitgebracht. Er bekam ein rotkariertes (ziviles) Hemd und Tante Lis kochte ihm einen Kaffee. Als sie das Wasser auf das Kaffeepulver gießen wollte, riss der Holzgriff ab und das kochend heiße Wasser verbrühte meinen rechten Oberschenkel. So etwas vergisst man nie wieder.

Schwerverwundete auf dem Abstellgleis

In irgendeiner Nacht war ein Transport mit Schwerverwundeten auf dem Bahnhof eingetroffen. Der Zug stand auf einem Abstellgleis. Die Frauen des Ortes trugen Essen, Kleidung und was sonst noch verfügbar war, hin. Meine Mutter und meine Tante schleppten einen Kupferkessel mit Glühwein zu den Waggons und nahmen, aus irgendeinem mir heute noch unerfindlichen Grund, mich mit. Wir gingen durch den schmalen Gang eines Waggons und ich staunte all diese verstümmelten Männer an: Menschen, deren Arme oder Beine fehlten, oder deren Köpfe so dick einbandagiert waren, dass manchmal nur noch die Augen zu sehen waren. Einer hatte überhaupt keine Gliedmaßen mehr. Ich habe keine sehr klare Erinnerung mehr daran, weiß nur noch, dass alles ganz einfach grausig war.

(Warum mich meine Mutter dorthin mitgenommen hat, wird eines der größten Rätsel meines Lebens bleiben. Aber seitdem weiß ich, was „Krieg“ wirklich bedeutet!)

In einer der Nächte kurz um das Kriegsende, wachten wir alle durch ein merkwürdiges Geräusch auf. Wir schauten aus dem Fenster und sahen im Dämmerlicht des grauenden Morgens einen endlosen Zug von Menschen durch die Bahnhofstraße wanken. Das Geräusch kam von den schlurfenden Schritten, mit denen sie sich kraftlos dahinschleppten. Dabei sangen sie ganz leise, um sich wachzuhalten. Es waren Hunderte von kleinen Buben, teils in Uniform, Zwölfjährige, Dreizehnjährige, Vierzehnjährige …
Man hatte sie aus Kinderheimen in Breslau, das tausend Kilometer von uns entfernt war, evakuiert, und nun sollten sie zu ihren Familien in die Heimat zurück. Sie waren den größten Teil des langen Weges zu Fuß marschiert. Die Menschen kamen aus ihren Häusern und brachten ihnen Essen und etwas zum Anziehen, eine warme Jacke, ein Paar Schuhe, was immer man entbehren konnte. Schon eine Stunde später zogen sie weiter und waren bald – wie ein Spuk – am anderen Ende des Städtchens verschwunden. Nur der eine oder andere blieb zurück, weil er einfach nicht mehr konnte.

Dann kam jener Tag im Mai 1945: Wir hockten unten im Keller, draußen ratterten amerikanische Panzer vorbei, Wortfetzen, Kommandos in einer fremden Sprache ertönten, wir hörten die schweren Schritte der Soldaten. Ein bewaffneter Amerikaner betrat den Keller und sagte etwas, was wir nicht verstanden. Mein Großvater, der ein wenig Englisch konnte, antwortete ihm. Der Krieg war aus. Was dann folgte, waren Nachkriegserlebnisse. Selbst die Ausquartierung war, wenigstens für die Kinder, ein Spaß. Während amerikanische Offiziere in unseren Wohnungen hausten, trieben wir uns in fremden Häusern herum, lernten neue Erwachsene und vor allem Kinder kennen und erlebte eine völlig andere Umgebung.

Hakenkreuzfahnen zu Betttüchern

Schon in der Nacht der Kapitulation muss es gewesen sein, dass die Frauen des Hauses die großen Hakenkreuzfahnen zerlegten (die man sonst bei jeder Gelegenheit liebedienernd aus den Fenstern gehängt hatte), das Hakenkreuz herausschnitten und Bettwäsche daraus schneiderten.

Ergänzen will ich auch noch, dass mein Großvater, der nicht nur ein passionierter Offizier war sondern auch Jäger, seine Jagdgewehre nicht bei der Besatzungsmacht ablieferte, wie befohlen – sondern sie in einem Sandhaufen im Bauhof vergrub. Was damit geschah, weiß ich nicht. Nur dass es lebensgefährlich war, so etwas zu tun, wurde mir später klar. Es wurden andere wegen geringfügigerer Vergehen erschossen – beispielsweise ein Rehauer Feuerwehrmann, der in Uniform zum Einsatz ausrückte – nicht bedenkend, dass das Tragen von Uniformen jeder Art von den Amerikanern streng verboten war – und der Unterschied „Soldat“ oder „Feuerwehrmann“ war nicht gleich ersichtlich.)

Deutlich mitbekommen damals habe ich auch, dass wir nicht nur die Wohnung verlassen und im Haus gegenüber, bei Rothemunds Notquartier bezogen – sondern dass sich dann in unseren Betten die Pollacken lümmelten!

(Erst später begriff ich, dass dies dieselben polnischen Zwangsarbeiter waren, die in den Baracken auf dem Bahnhofsgelände hausten und die mich so dauerten, als ich einmal bei ihren Vorbeimarsch zur Arbeit irgendwo in Rehau entdeckte, dass manche keine Schuhe hatten, sondern nur irgendwelche Lappen um die Füße geschlungen – und das in eisiger Winterkälte.)

Irgendwann im Juli 1945 kam ein fremder Mann aus der amerikanischen Gefangenschaft und sagte, er wäre mein Vater. Es war schon dunkel (und wegen der von den Amerikanern verhängten nächtlichen Ausgangssperre lebensgefährlich), als im Hinterhof ein Pfiff ertönte. Meine Mutter wusste sofort, wer das war. (Später habe ich diesen Pfiff manchmal richtig gehasst – weil ich wie ein dressierter Hund darauf reagieren und beim Vater erscheinen musste.)

Großvater – warum hast du das getan?

Etwas muss ich noch nachtragen, weil es mich immer schon geplagt und das Bild meines geliebten Großvaters Hertel eingetrübt hat. Kurz nach Kriegsende spülten die turbulenten Ereignisse der Flucht und Vertreibung und des Zusammenbruchs des Großdeutschen Reiches einen vierzehnjährigen Jungen zu uns ins Haus. Er hieß Weiß, mit Vornamen vielleicht Gerhard. Er wurde in die Familie aufgenommen. Aber eines Tages ertappte mein Großvater ihn dabei, dass er von den Vorräten im Dachboden ein Stück Wurst genommen (und gegessen) hatte. Dieser Vertrauensbruch (gestohlen!) wurde streng geahndet: Mein Großvater verstieß diesen Buben, verjagte ihn schimpfend aus der Familie. Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist; aber ich erlebte dies damals schon als sehr grausam – und heute umso mehr, in der Rückerinnerung. Ein Vierzehnjähriger – so alt wie ich einmal war – und wie einer meiner Enkel jetzt gerade geworden ist.

Und wir litten damals keineswegs Not. Noch heute grüble ich darüber nach, welcher Teufel meinen Großvater damals geritten hat. (Und viel schlimmer: Was er, aus ähnlichem Anlass, vielleicht in der Ukraine als Besatzungskommandeur getan hat.)

Rehau Winter 1945: Die Tankstelle am Stauwehr des Perlenbachs (beim Zusammenfluss mit dem Höllbach zur Schweßnitz). Endlich war ein Vater da. Aber nur so happy wie auf dem Foto war die Beziehung leider nie. (Archiv JvS)

Weiterführung dieses Beitrags in → Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen – redividus 2003 und in → Mutter mit Kind 1942 – was man nicht sieht.

164 _ aut #628 _ 2021-04-08 / 18:16

Ein Kommentar zu “Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen

Hinterlasse einen Kommentar