Allerhand Berufe…

… habe ich in meinem Leben schon ausgeübt. Wenn ich die kleineren Fertigkeiten dazu nehme, werden das sicher an die 33 Tätigkeiten. Mal schauen, wie das wirklich aussieht. Das mag sich für jemanden, der nach dem Abitur in einen Konzern wie Siemens eingetreten ist und immer dort blieb, oder für einen Beamten bis zur Rente, seltsam oder gar dubios ausnehmen

– für einen Schriftsteller ist es die „conditio sine qua non“ (ein wenig Latein gehört in meiner Ausbildung auch dazu, aber nur ein klein wenig), möglichst viele Lebensbereiche und Arbeitsformen kennenzulernen – woher sonst soll er den Stoff für seine Bücher nehmen, wenn nicht solchen eigenen, auch beruflichen Erfahrungen?

Ich definiere „Beruf“ und „berufsähnliche Tätigkeit“ (die von nicht wenigen Menschen als Vollzeitberuf ausgeübt wird) folgendermaßen: Ein System immer gleicher Abläufe, mit denen man Produkte herstellt, die andere Menschen brauchen und somit auch bezahlen – was zum ganz wesentlichen Element des Geldverdienens mit so einer Aktivität führt.:

Begonnen hat das in meinem Leben mit einer Tätigkeit, für die ich als Kind im vaterlosen Haushalt im Winter 1944/45 ausübte und die von existenzieller Bedeutung für die Familie war: Im Küchenherd früh am Morgen nach dem Aufwachen die Glut vom Abend vorher behutsam anfachen, bis richtig Feuer im Ofen war, das Wasserschaff warmes Wasser bereitstellte, im Kessel das Wasser für den Malzkaffee sprudelte und sich vor allem eine behagliche Wärme in der Küche und von dort in der ganzen Wohnung ausbreitete. Klingt wahrscheinlich für verwöhnte Gegenwartsmenschen etwas archaisch und gewöhnungsbedürftig – aber so war das früher halt, bevor automatisch gesteuerte Etagenheizungen und eigenes Bad mit Toilette und ähnlicher Komfort aufkamen.
Mit dem Anheizen des Küchenofens war es aber nicht getan. Meine weitere Aufgabe war, die dünnen Schleißen herzustellen, mit denen man die Glut füttern musste, bevor sie richtig dicke Holzscheite entzünden und für ein ordentliches Feuer im Herd konnte.

Wo kommt man an solche Schleißen (wie sie in Rehau genannt wurden)?

Zunächst ist es ganz praktisch, wenn ein Vorfahre (in diesem Fall mein Urgroßvater mütterlicherseits, der — „alte Kropf“, Baumeister und Architekt) irgendwann vermögend genug war, nicht nur in Rehau ein eigenes Haus (mit besagter Küche und Herd) in der Bahnhofstraße 15 zu bauen, sondern auch noch ein eigenes Stück Wald zu erwerben. In diesem Wald wurde jedes Jahr ein geeigneter Baum gefällt (vermutlich eine Fichte – Rehau liegt im Fichtelgebirge, ganz oben am nordöstlichen Rand des Hufeisens), von den Waldarbeiter in etwa zwei Meter lange Stücke zerlegt und im Sommer in den großem Bauhof (von insgesamt zwei Höfen und drei Gärten) des Anwesens Bahnhofstraße 15, Einfahrt Goethestraße, geliefert. Dorthin kam dann eine fahrbare Kreissäge, welche an einem Nachmittag unter höllischem Lärm die Baumstücke in etwa 25 Zentimeter breite Rundlinge zerlegte.
Als nächstes wurde aus der Holzlege (wo die einigermaßen trockenen Holzscheite des Vorjahres weiter trockneten), die sich im kleinen Innenhof befand, die beiden Hackstöcke in den Bauhof gerollt: Ein großer für den Großvater – ein etwas niedrigerer für mich, der ich etwa acht oder neun Jahre alt war und schon eine Axt sachgerecht schwingen gelernt hatte. Und dann ging es los: Rundling für Rundling in etwa 25 Zentimeter hohe und fünf Zentimeter durchmessende Kanthölzer zerlegen, die man Holzscheit nannte (der Familienname „vom Scheidt“ hat damit wohl nichts zu tun – der leitet sich von einem Dorf im Westfälischen namens „Scheit“ ab – aber wer weiß, vielleicht gibt es dort ja eine Beziehung zu Holz-Scheiten?).

Diese kleineren Holzstücke wurden zunächst einige Monate im Bauhof zu einem runden, innen leeren Turm aufgeschichtet, was durchaus eine gewisse Kunstfertigkeit vom Großvater und den mir verlangte, damit dieser Turm nicht einstürzte. Wichtig war, dass die Luft leicht in den Turm und durch ihn strömen und das im Wald ja naturfeuchte lebendige Baumholz gut trocknete. Wenn dann im Herbst die Scheite genug Feuchtigkeit abgegeben hatten, wurden sie von mir in die Holzlege getragen und dort an der Wand so hoch wie möglich aufgeschichtet zu werden, damit sie noch weiter trockneten.

Dann kam der nächste, vorletzte Schritt in diesem Arbeitsprozess des Schleißen-Herstellens: Zum Heizen des Küchenherds wurden jeden Tag in einen Kasten unter dem Herd aus der Holzlege zwei, drei Dutzend Holzscheite (von mir) in die Küche und in dieses Kasten getragen, wo sie infolge des den ganzen Tag für das Kochen und (in der kühlen und kalten Jahreszeit) das Heizen nötigen lodernden Feuers weiter Feuchtigkeit abgaben.

Letzter und wichtigster Akt: Ein großes Küchenmesser der Mutter aus der Besteckschublade nehmen, eines der richtig scharfen, und dazu zwei oder drei nun wirklich knochentrockene Scheiter aus dem Kasten unter dem Ofen, sie raus ins Treppenhaus tragen und dort dann, auf den hellen Granitstufen* fein säuberlich weiter der Länge nach spalten. Das ist gar nicht so einfach, wie sich das anhört – vor allem für ein Kind in meinem damaligen Alter. Das war echte anstrengende Kinderarbeit – auf die ich stolz wie Oskar war, weil sie wirklich wichtig war. Das sie anstrengend war, zeigt sich schon daran, dass ich nicht nur eines von Mutter großen Küchenmesser auf diese Weise ruiniert habe. Jedenfalls stellt ich auf diese Weise, in handwerklich guter Arbeit, einige Bündel mit je etwa einem Dutzend schmaler Schleißen her, die man wie große Strichhölzer dann leicht in der nächtlichen Herdglut früh am Morgen zu einem richtigen Feuer entfachen konnte.
Und nun wird es wirklich interessant. In einem weiteren Akt band ich diese Schleißenbündel mit einem Stück Schnur zusammen (auch nicht gerade einfach – wer´s mal versucht hat, wird das bestätigen). Eines bekam die Mutter bzw. ich (weil das ja meine morgendliche Aufgabe war: das Entfachen der Herdglut). Und je ein Bündel trug ich nach oben in die Wohnung von Onkel Karl und Tante Annemie und nach unten zur Flüchtlingsfamilie Lindner (die dort bei Kriegsende im Mai 1945 zu fünft in einem Zimmer Unterschlupf gefunden hatten) – und kassierte dafür je fünf Pfennige. Ist doch nicht schlecht – zehn Pfennige als ausgebildeter Schleißenschneider zu verdienen – und das fast jeden Tag!

Autowaschen – Bücher verleihen – Bücher schreiben

Das war mein allererster Beruf. Der zweite war, ebenfalls sehr professionell, als Autowäscher im Dienste meines Vater (jeden Freitagnachmittag fünfzig Pfennige). Danach etablierte ich auf dem Treppenabsatz vor der verglasten Eingangstür in unsere Wohnung im ersten Stock in einem weiß gestrichenen Schrank meine Bibliothek. Die hatte bald zehn oder zwanzig Bände. Und diese meine Bücher verlieh ich an Schulfreunde und Nachbarskinder für zehn Pfennige je Woche. Dazu war erforderlich, dass ich eine Liste führte und kontrollierte (wer – was – von wann bis wann? wieviel?) – was mich mit den Segnungen der Buchhaltung vertraut machte. Ich lernte für Nachschub zu sorgen (Grundlage der Warenwirtschaft). Ich lernte, mein Sparschwein zu füttern und in Neuanschaffungen zu investieren (Grundlage jeder Geldkreativität). Und ich lernte die, sagen wir mal, kleinkriminellen Möglichkeiten dieser Tätigkeit kennen. Um nämlich meinen eigenen Lesehunger zu stillen, war ich Kunde in einer Leihbibliothek in Rehau, bald auch noch in einer zweiten (die andere meiner heiß geliebten Wildwest- und Abenteuer- und utopischen Schmöker im Sortiment führte). Diese Leihbücher waren rasch durchgelesen – einmal schaffte ich an einem Nachmittag drei hintereinander: Billy Jenkins, Tom Prox, Pete, Will Fox der Weltraumpirat, Der Pfeifer

Noch ein Beruf und noch ein Beruf und noch…

Und dann verlieh ich diese Bücher, für die ich dreißig Pfennige pro Woche bezahlte (für die begehrten ganz neuen, noch druckwarmen sogar vier Groschen) – also dann verlieh ich sie an andere Leseratten weiter. Gegen einen Groschen. Es gab Schnellleser wie mich – das bedeutete zweimal Weiterverleihen war möglich – und Langsamleser, sehr säumige – das hieß manchmal, sie nicht rechtzeitig zurückzubekommen, hieß somit, in der Bücherei Nachgebühr entrichten – vor allem aber durfte die Leihbücherei nicht erfahren, was ich da – nicht sehr korrekt, mit ihrem Eigentum anstellte. Aber es gab nie Ärger und im Großen und Ganzen funktionierte das Verleihsystem ganz gut.
Was ein richtiger Beruf, dieser Buchverleih, mit allem Drum und Dran eines Warenwirtschaftskreislaufs (wo es ja auch nicht immer ganz „sauber“ zugeht, oder?)

In der selben Zeit lernte ich, nach Schleißenschneider und Autowäscher und Buchverleiher, meinen vierten Beruf: Zeitungsjunge. Wie jeder weiß, ist das der Grundberuf für angehende Millionäre, ähnlich wie Tellerwäscher. Jedenfalls ist das in Amerika so, wo ich ja hinstrebte, schon wegen meiner Westernhelden Billy Jenkins und Tom Prox und vor allem Jim Parker (mit seinen „Abenteuern im Weltraum“). Und weil die amerikanischen Soldaten in Rehau so nett waren und so tolle Kumpel wie der „Herr Mister“ (aber diese Geschichte erzähle ich ein andermal).

Der Weg vom Lesen der Leihbücher und Groschenhefte führte für mich fast zwangsläufig dazu, selbst mich als Autor solcher Werke zu versuchen, also zu meinem fünften Beruf. Wie so oft im Leben, war es meine Mutter, die den zündenden Funken (Küchenherd!) auslöste. Eines Tages (da war ich allerdings schon siebzehn und wir waren von Rehau nach München umgezogen) sagte sie, wie nebenbei (was bei Müttern besonders intensiv wirkt): „Jetzt hast du schon so viel von diesem Zeug gelesen – da kannst da das doch bald selber schreiben“. Sie meinte das keineswegs positiv, sondern kritisch, um mich davon zu befreien (weil die Schule unter meiner Lesewut schon ein wenig litt): „von diesem Zeug„.

Gesagt getan. Ein Jahr später hatte ich mein erstes Leihbuch fertig (man bleibt, wie man daran sieht, gerne in der vertrauten Branche). Ich verdiente damit 250 Mark Honorar; später noch einmal 300 Mark für den Nachdruck als Groschenheft (oder waren es 500 Mark? ich weiß es nicht mehr so genau, ist ja lange her – aber das allererste Honorar vergisst man nie).

Es folgte Studium, Beruf Nr. sechs als Journalist (mit einer etwas unorthodoxen, aber sehr hilfreichen und ergebnisreichen, vielseitigen und vor allem sehr fundierten praktischen Ausbildung in dem, was man üblicherweise „Volontariat“ nennt, das aber ehrlich gesagt nur ein besonders intensiv betriebener Studentenjob war.)
Romanautor und Journalist – ist das nicht im Grunde derselbe „schreibende Beruf“ mag an dieser Stelle mancher meiner Leser einwenden. Von wegen! Da liegen Welten dazwischen, sowohl was das Umfeld angeht (eine Zeitungsredaktion im Großraumbüro ist was völlig anderes als die Schreibstube eines Autors im Home-Office). Nochmal anders ist die Arbeit für den Rundfunk, die ich Ende der 70er Jahre beim BR begann, und dort kann man wieder große Unterschiede feststellen bei dem was ein Schreiber von Features macht, oder einer, der vor allem Interviews durchführt (dafür braucht man nämlich nahezu psychotherapeutische Qualifikationen) – beides habe ich intensiv betrieben. Und ist nicht Rundfunksprecher auch ein eigener Beruf? Mein Vater wäre das gerne geworden – das hat er an mich delegiert, denn ich habe beim BR alle meine Texte selbst gesprochen.

Aber ich springe schon zu weit in die Zukunft. Als Student habe ich nämlich noch einen völlig anderen Beruf gelernt: Börsenmakler. Naja, nicht ganz: Ich habe für eine amerikanische Firma Investment-Fonds verkauft, für die später zunehmend kriminell werdende und berüchtigte IOS, und dazu eine Menge „Hard Selling“ gelernt und wirtschaftliches Hintergrundwissen und wie man Aquise macht (kalt – einfach so am Telefon) und warm – über persönliche Empfehlungen („Auch wenn du keinen Vertrag abschließt- lass dir immer drei Empfehlungen geben, mindestens drei!“).

In derselben Zeit, während des Studiums, habe ich bei etlichen TV-Produktionen und Filmen als Statist gearbeitet (machen in München viele Studenten – muss man auch lernen – vor allem die endlose Warterei, bis man für ein paar Minuten am Set auch „im Bild“ ist).
Ich habe als Regieassistent gearbeitet (Frühehen, hieß diese Produktion der Schongerfilm – den Vertrag habe ich noch im Archiv – genau wie meine Kündigung vonseiten der IOS, als ich nicht mehr fleißig genug verkaufte – weil ich mein Studium der Psychologie doch nicht abbrechen, sondern ordnungsgemäß mit Diplom – heute „Master“ genannt – beenden wollte).

Hab ich noch etwas vergessen? Ach ja: Reiseleiter (in die Türkei) war ich auch einmal. Und Yogalehrer war ich eine Weile, an der Sporthochschule, für den Kreisjugendring, im Gesundheitspark unter dem Olympiastadion. Gelernt habe ich das auf die beste Art: Learning by doing – von meinem Yogatherapeuten und Lehrer und Mentor Max Kirschner, der ursprünglich Tabakpflanzer in Indonesien gewesen war, auch so ein Selbermacher und Autodidakt, von dem ich nicht nur viel über Yoga gelernt habe – aber das ist ebenfalls eine „andere Geschichte, die ein andermal erzählt“ werden soll.

Und was ist mit der Psychologie?

Als Psychologe habe ich nach dem Studium nicht gleich gearbeitet. „In München gibt es derzeit 600 arbeitslose Psychologen“ sagte der Sachbearbeiter im Arbeitsamt, als ich mich nach einem Job als angestellter Psychologe erkundigte – und er hat dabei fast gelacht: „Die wollen alle nach München!“*.

* Angeblich hat München gleich nach Manhattan / New York die höchste Dichte an Psychologen. Das lässt zwei Schlüsse zu:
° München ist wirklich so beliebt und von so vielen gestressten Leuten mit Neurosen bewohnt, dass sich das für Psychologen als Einzugsgebiet lohnt,
° oder den Psychologen ist es gleich, womit sie ihr Geld verdienen – Hauptsache „München“ (so war das bei mir).

Was also tun? Was kann ich noch, was interessiert mich noch? Schreiben. Was mit Journalismus. Auf diese Weise bin ich für ein Jahr als Lektor bei der gerade sich etablierenden Frauenzeitschrift „Jasmin für das Leben zu zweit“ gelandet (ein deutscher Klon des in Amerika so erfolgreichen Cosmopolitan – der nach einem Jahr Höhenflug rasch ins Trudeln kam und abstürzte. Ich war da gar nicht als Journalist tätig – von dieser Sorte hatte der Springerverlag mehr als genug und sich davon Topleute wie Will Tremper und die Raymond LeViseur mit seinem Gspusi Marianne Schmidt (ein klasse Duo und so ein hübsches, lebendiges Paar, beide exzellente Autoren) – Top-Schreiber allesamt und auch noch die ganz besondere Joe Lederer, die so wunderbare Kolumnen schrieb. Mein Job waren Recherchen in der Staatsbibliothek und die Vergabe der Übersetzungen – mit denen sich meine erste Frau Elke ein „goldenes Näschen“ verdient hat – es geht nichts über „Vitamin B“.

Dann wechselte ich als „wissenschaftlicher Lektor“ (endlich konnte ich die Früchte meines Psychologie-Studiums und meiner journalistischen Tätigkeit für die Selecta ernten) in einen Buchverlag, die Nymphenburger Verlagshandlung. Lektor ist ein richtiger eigenständiger Beruf – man erlernt in unter anderem am „Buchwissenschaftlichen Institut“ der Ludwigs-Maximilian-Universität. Ich habe das, auf dem Hintergrund meiner journalistischen Tätigkeit (Jasmin war dabei durchaus eine gute Empfehlung) und wieder autodidaktisch und via Learning by doing im Verlag gelernt. von einem sehr tüchtigen und kreativen Verleger, Bertold Spangenberg. Als fest angestellten Lektor hielt es mich nur ein Jahr in der Nymphe (wie wir sie nannten) – ich bin einfach kein company man – schon wegen meinem unruhigen ADHS-gesteuerten Körper und ebenso quirligen Geist nicht.

Und dann schaffte ich endlich, mehr zufällig*, doch noch den Sprung in die Tätigkeit als freiberuflicher Psychologe mit eigener Praxis und wurde einer der ersten Drogenberater in München.

* Der Zufall sah Ende 1970 so aus: Auf irgendwelchen rätselhaften Wegen war es der damals auf Grund rasant steigender Zahl von Drogenkonsumenten in der bayrischen Landeshauptstadt gegründeten Drogenkommission zu Ohren gekommen, dass ich mich mit Rauschdrogen beschäftigte (ich bereitete da gerade mit meinem Kollegen Wolfgang Schmidbauer für die Nymphe das Handbuch der Rauschdrogen vor, das ein großer Erfolg werden sollte. Da man gerade dabei war, für München eine Drogenberatungsstelle einzurichten, suchte man Fachleute – ich war offenbar einer – und bekam so das Angebot, mit drei anderen Fachleuten diese Beratungsstelle in der Haimhauserstraße aufzubauen. Dort entstand bald das Bedürfnis mancher Eltern und Konsumenten, die kurzen und notgedrungen oberflächlichen Beratungsgespräche durch längere Gespräche mit mehr Tiefgang und vor allem mit therapeutischem Potenzialfortzusetzen – und schwupps, hatte ich meine eigene Praxis als Psychologe und konnte mich vor Klienten nicht mehr retten. Das ist aber eine verdammt anstrengende, schwierige Arbeit, die durch härtere Drogen immer schwerer wurde. So etwas macht man fünf oder sechs Jahre. Dann sollte man aussteigen und etwas Neues aufbauen.

Aus der Tätigkeit als Drogenberater ergab sich zwangsläufig eine zusätzliche als Seminarleiter in der Fortbildung für Leute aus dem Jugendschutz (meistens mit eigener Drogenkarriere – ähnlich wie ich mit dem Kiffen), dazu Lehrer und Sozialarbeiter.

Endlich: Schreib-Seminare

Was man mit etwas Anfängerglück auch ohne spezielle Ausbildung hinbekommt – wie man ein fünftätiges Seminar mit 40 Teilnehmern leitet – bringt einen rasch an die Grenzen des Möglichen – da hilft auch die Psychoanalyse nicht viel, die man (also: ich) selbst parallel dazu als Klient macht. Ich merkte rasch, dass ich mein Anfängerglück besser nicht überstrapazieren sollte und begann eine Ausbildung in ThemenZentrierter Interaktion (TZI) – und hatte zum ersten Mal in meinem ganzen Berufsleben, während dem ich immer auf einer unruhigen Suche war (die vielen oben angeführten Tätigkeiten belegen das) das Gefühl: Hier bin ich richtig. Parallel dazu machte ich, nach meiner Psychoanalyse, eine ebenfalls dreijährige Ausbildung in Gestalttherapie. Die TZI-Ausbildung beim Workshop Institut for Living Learning (WILL), dass seinen _Namen zu Recht trug, mit exzellenten Trainern und Graduierten, schloss ich mit dem Fähigkeitsausweis ab (heute nennt man das Diplom). Und war ab da auf der richtigen Schiene.

Bei WILL lernte ich meine zweite Frau Ruth kennen, mit der ich bald einen eigenen Seminarbetrieb aufzog. 1979 kombinierte ich meine Fähigkeiten und praktischen Erfahrungen im Schreiben mit den neuen Methoden der TZI: Das Seminar „Schreiben als Abenteuer„, das ich mit meiner Ausbilderin und dann Kollegin Elisabeth von Godin in jenem Sommer durchführte, war das erste in einer Kette von inzwischen weit über tausend solchen Seminaren – in der Corona-Pandemie supermodern online als Webinare. Nebenbei verfasste ich Bücher (mehr als 30 sind inzwischen erschienen), schrieb als Journalist für Zeitungen und Magazine und für den Bayrischen Rundfunk. Machte Einzelberatungen. Letzteres mache ich schon lange nicht mehr für Drogenkonsumenten, sondern für angehende Romanautoren, Kurgeschichtenschreiber, Märchenerzähler, Blogger (ja, auch für die – sobald ich genügend Erfahrungen mit dem eigenen Bloggen gesammelt habe) – und für Hochbegabte (ein Topos, der wohl alle anderen Topoi bestens miteinander verbindet – was noch zu zeigen sein wird in diesem Blog – und für das ich nicht nur durch mein Sachbuch Das Drama der Hochbegabten Expertise und Kompetenz erworben habe, sondern durch viele spezielle Beratungen zu diesem Thema – was meiner langen Liste jetzt wohl auch noch den „Berater von Hochbegabten“ hinzufügt*.

* Ich muss wohl selbst einer sein. Jetzt ist es raus. Aber darf man das von sich sagen: „Ich bin hochbegabt?“ Wenn die Testergebnisse stimmen – why not? Das war und ist stets der erste Rat, den ich Klienten mit dieser Fragestellung gegeben habe: „Stehen Sie dazu. Realisieren Sie ihre Talente. Niemand sonst wird es für Sie tun. Und wenn Sie es nicht tun – und nicht dazu stehen, auch der Umwelt gegenüber sich damit zeigen – werden Sie ihr Leben lang unglücklich sein und der Menschheit entgeht sicher ein wichtiger Beitrag, den nur Sie mit Ihren Talente leisten können.“
Ich nenne dies Getting out – sich zeigen, mit dem was man kann und hat.
Mit dem SelbstTest [work in progress] kann man sich einen ersten Eindruck vom eigenen HB-Potenzial verschaffen. Das Schreiben spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Keine Ahnung, wie ich das alles geschafft habe. Muss wohl sehr fleißig und konzentriert gewesen sein – und enorm schnell. Dabei hatte ich stets das Gefühl, ich sei faul, unkonzentriert und langsam. So kann man sich irren.

Doch nun lerne ich wieder etwas Neues: Bloggen. Da kommt mir natürlich die ganze Vorerfahrung in allen möglichen Berufen, zumal mit dem Schreiben, sehr zu Pass. Aber es ist doch auch etwas ganz Neues. Eben noch ein Beruf: Blogger. Der dreiunddreißigste? Muss mal nachzählen.
Mal schauen, wie sich das entwickelt, Ob die Welt das überhaupt braucht. Und ob man – wie als Fünfjähriger – damit auch Geld verdienen kann. Weil dies das einzige wirklich zuverlässige Feedback ist für das, was man arbeitet.

MultiChronalia

Ich will jetzt nicht nochmal all die Berufe und die dazugehörigen Jahreszahlen auflisten – das oben Angeführte ist seiner Fülle von Details im Grunde ein einziges MultiChronat, mit alle seinen Querverbindungen und Zeitschichten. Aber eines drängt sich mir jetzt noch ergänzend auf, mit einer kleinen Zeitreise 76 Jahre zurück, nach 1944/45:

Ist schon seltsam – jetzt, wo ich das eben mit dem Fünfjährigen und dem Schleißenmachen vom Anfang dieses Beitrags nochmals erwähnt habe
– ist das Bloggen nicht etwas ganz Ähnliches?
Viele kleine oder große Beiträge, wie damals die dünnen kleinen Schleißen zum Feueranfachen im mütterlichen Küchenherd und die etwas größeren Scheite, um das Feuer am Lodern zu halten
– so wie ich all diese (inzwischen weit über hundert) Beiträge für diesen Blog verfasst habe – um welches Feuer zu schüren?

Das verlangt doch geradezu nach einem multichronal alles miteinander vernetzenden Haiku:

Feuer in Mutters Herd
Das Kind füttert die Flamme
Damit es warm bleibt

Quelle
Scheidt, Jürgen vom: Das Drama der Hochbegabten. (2004) München Okt 2005 (Piper TB). –
Das Buch ist längst vergriffen. Ich sollte es überarbeiten und wieder mal zugänglich machen. Aber da ist mein glü-Roman-Projekt – und dieser Blog, die mich jetzt viel mehr beschäftigen.
Man kann eben nicht alles machen – auch für Hochbegabte hat der Tag nur 25 Stunden (kleiner Scherz).

aut #131 _ 2021-03-15/22:00

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